Grenzenlose Missverständnisse
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- Zuletzt aktualisiert am Montag, 12. Februar 2018 19:26
- Veröffentlicht am Dienstag, 26. September 2017 23:50
- Geschrieben von Johann Till
Von Dr. Johann Till
Die Grenzen des einstigen, gelegentlich auch „historisch“ genannten Ungarn, das man hier verständlicherweise gerne auch Groß-Ungarn nennt, markierten leibhaftig die Schüler des Katholischen Gymnasiums St. Stephan in der südungarischen Kleinstadt Tolna Anfang Juni, anlässlich ihres Projektages. Auf dem Schulhof wurde entlang der großformatig aufgezeichneten Landesgrenze des vor hundert Jahren untergegangenen Ungarns - das auch im Pressebericht des Tolnauer Volksblattes (Tolnai Népúság vom 12. 6. 2017) Groß-Ungarn bezeichnet wird - ein merkwürdiges Geschehen organisiert. Mit Flaggen, in den Nationalfarben der Nachbarländer, an die nach dem Friedensvertrag von Trianon (nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg) Ungarn große Gebiete abtreten musste, wurde der historische Grenzverlauf durch die Schüler dargestellt und mittels situationsgerecht positionierter Nationalfahnen der Zugewinnstaaten die Großungarn-Grenze szenisch abgebildet. Das alles im Geiste einer nationalen Schul-Agenda, mit dem verführerischen Schlagwort „Genzenlos“. Naiv, wie ich scheine, dachte ich erst, das landesweite Schulprojekt „Grenzenlos“ möchte die geistige Offenheit und die Kultur der Verständigung und des Austausches mit den Nachbarvölkern fördern. Ich lag völlig daneben, wie ich erkennen musste.
Nachdem auch im Pressebericht hervorgehoben berichtet wird, mit der Grenzmarkierungsaktion wurde darauf hingewiesen, „an wen wir unsere Gebiete abtreten mussten“, scheint mir der Geist der Leitung des St. Stephan Gymnasiums in Tolna dem tief sitzenden ungarischen Verweigerungsnarrativ „Nein, nein , niemals!“ verhaftet zu sein.
„Nein, nein, niemals!“ (werden wir die Gebietsabtretungen nach Trianon akzeptieren), ist bis heute die bestimmende Grundeinstellung der meisten Ungarn und entsprechend (fast unheilbar) belastet ist auch die Einstellung zu allen Nachbarn ringsum. Ein grenzenloses Trianon-Trauma hat sich so tief in das nationale Gedächtnis, in die nationale Eigen- und in die nachbarliche Fremdreflexion der Menschen eingefressen, das es zur grenzenlosen Tragik eines Volkes geworden ist. Und es scheint keine Heilung in Sicht. Die immerwährende öffentliche Perpetuierung des „Friedensdiktats von Trianon“, von der Wiege bis zur Bahre, auch nach hundert Jahren noch, wie es letztlich die Grenzmarkierungs-Schüler der Groß-Ungarnkarte im Hof des St. Stephan Gymnasium in Tolna inszenierten, wird im heute virtuell tatsächlich grenzenlos gewordenen Karpatenraum von unseren Nachbarn nicht übersehen worden sein. Zumal der Projekttag „Grenzenlos“ vermutlich landesweit veranstaltet wird. Warum dazu gerade der historisch belastete Trianon-Topos mit seiner niemals ehrlich aufgearbeiteten Ursache-/Wirkungsgeschichte herangezogen werden musste? Wo doch der historische Stachel „Trianon“ und dessen Revision entscheidendes Motiv zum Eintritt Ungarns an der Seite Hitler-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen, auch für Ungarns Bevölkerung, war. Grenzenlose Unvernunft oder grenzenlose nationale Besessenheit?
Stark und stolz
Dazu haben wir den passenden politischen Kurs, dessen nationale Vermessenheit ihr eigenes dazu tut. Wer traut sich da noch „anders“ zu sein? Ist es Zufall, dass hier das erste nationale Abgrenzungssymbol in Europa gegen Fremde, in demonstrativ stolzer (!) Einmütigkeit errichtet wurde? Eloquenter als der Zaun entlang der Grenze wird das neue nationale Selbstverständnis der Regierung, das seit einigen Wochen auf übergroßen Werbetafeln entlang der Durchgangsstraßen als „Nationale Konsultationsbotschaft“ zu sehen und in den Nachrichten zu hören ist (in Wirklichkeit an Brüssel-Europa adressiert): Ungarn ist ein starkes und stolzes europäisches Land!, steht in dicken Lettern auf gigantischen Werbetafeln zu lesen. Wozu das alles? Hat das nicht schon alle Welt immer gewusst? Wer traut sich das zu bezweifeln! Wozu diese politische Großmanns-Kommunikation, die im monatlichen Wechsel neu variiert, den Menschen im Lande und darüber hinaus, ganz Europa zumutet. Gross, wie die Grenze unseres Landes einst in der Tat war, ist heute leider nur noch die breitbeinige Vermessenheit des aktuellen politischen Kurses. Bescheidenheit wäre die passendere Tugend.
In Ungarn lebt jedes vierte Kind (25%!) zwischen 0-17 Jahren unter einkommensarmen Verhältnissen, geht aus dem jüngsten Bericht des Innocenti-Forschungszentrum von UNICEF hervor. Ungarn ist das pro Kopf größte Subventionsempfängerland der EU. Tut nichts zur Sache! Stark und stolz sind wir! Wie man es gerne mit schwellender Brust in Großmannsart gerne demonstriert.